Balken _ Text

„Auf der Suche“ – Die Bildhauerin Mira Bergmüller

Text: Dr. Thomas Blisniewski, Köln

In ein langes schwarzes Gewand gehüllt, das in seiner Form an die Kleidung spätgotischer Mariendarstellungen erinnert, steht eine junge Frau vor einer Zeile von renovierungs-bedürftigen Altbauten. Zahlreiche Werkzeuge einer Holzbildhauerin sowie eine lange Holzlatte werden von den Händen der Frau umfasst. Ihr Kopf ist in den Nacken gelegt, und intensiv schaut sie nach oben. Ein Ladenlokal, dessen zwei Fenster mit Rolläden verschlossen sind und zwischen denen ein schwarzer Eingang klafft, ist links im Hintergrund zu sehen. Die andere Haushälfte wird von der Reklameschrift „Fleischerei“ beherrscht.

Gewandung und Haltung lassen den Betrachter – jedenfalls den, der mit der christlichen Ikonographie gut vertraut ist – unweigerlich an die Leidenswerkzeuge Christi, an die „Arma Christi“ denken, wie sie seit dem Mittelalter unzählige Male dargestellt wurden. Rechts und links der Frau stehen zwei große Straßenbäume, deren Äste sich y-förmig gabeln. Zusammen mit der Schwarzgewandeten evozieren sie Gedanken an die beiden Kreuze der Schächer von Golgatha.

Wer ist diese Frau, die unter einem imaginären Kreuze Jesu steht, zu dem sie, versteinert in tiefer Trauer, aufblickt?

Mira Bergmüller, Holzbildhauermeisterin, Künstlerin, Studentin an der Dresdner Akademie, inszeniert sich und christliche Ikonographie in diesem großformatigen (85 x 54 cm) Schwarz-Weiß-Photo, das auf eine Leinwand entwickelt wurde. So werden die Gerätschaften der Bildhauerin zu Marterwerkzeugen, zu Passionswerkzeugen, zu Symbolen der Passion und einer Passion. Sie werden zum Sinnbild des Leidens und der Leidenschaft zur Kunst.

Das Photo, die Inszenierung, gründet auf der Typengeschichte der alten Kunst: die Gabel-kreuze für die Schächer, Maria als Trauernde unter dem Kreuz ihres Sohnes, die Arma Christi. Geschehen von damals wird vom kargen Jerusalemer Berg nach Berlin Kreuzberg und vor das Atelier der Künstlerin verlegt. Eine Brücke wird geschlagen – nicht nur vom Kreuz zum Kreuz-Berg in Berlin – sondern auch vom Einstigen zum Heutigen. Der christliche Glaube, damals begründet, er lebt fort in Kreuzberg und überall.

Mira Bergmüller ist eine Suchende: Sie sucht auf zwei Ebenen und an zwei Fronten gleichermaßen. Einmal ist es ihr Anliegen, überkommene, jahrhundertealte christliche Bildtraditionen in die Gegenwart zu integrieren und sie dabei – durchaus behutsam – fortzuentwickeln, die christliche Ikonographie, die seit dem 19. Jhdt. weitgehend erstarrt ist, wieder zu beleben. Das unterscheidet ihre Photoinszenierungen auch grundsätzlich etwa von Arbeiten der Bettina Rheims. Letztere transloziert in den meisten Photographien ihres Zyklus „I.N.R.I.“ sehr genau die Bildersprache der mittelalterlichen und neuzeitlichen Tafeln an aktuelle Orte. Dadurch bleiben Rheims Inszenierungen leicht verständlich und nachvollziehbar. Sie bedienen sich eines allgemeinen, kulturellen Bildgedächtnisses und werden daher sofort identifiziert. Bergmüller arbeitet hingegen mit ausgewählten Versatzstücken und feinsinnigen Allusionen, was ihre Werke hermetischer und gleichzeitig vielschichtiger werden lässt. (Darin ist sie übrigens auch der alten Kunst ganz nahe, die auch entschlüsselt werden musste und muss, deren Bildelemente stets „res et signum“, Bild und Zeichen (für etwas) sind.) Das Kreuz, in traditionellen Darstellungen Zentrum und Mittel-punkt der Kompositionen, fehlt. Das größte Leid ist nicht darstellbar, und so bleibt die Trauer der Mutter, der Schmerz der Anteilnehmenden.

Die zweite Suche der Künstlerin besteht in der Frage, wie das traditionelle Bildschnitzen, das solide handwerkliche Können heute, da die handwerkliche Seite in der Akademieausbildung kaum noch eine Rolle spielt, in ein aktuelles künstlerische Oeuvre eingebracht werden kann.

Der Photographie zugeordnet ist ein Balken (315 x 15 x 8 cm). Photo und Balken bilden eine Einheit, in der der Balken quasi die Predella zum Photo ist. Bergmüller nimmt also bewusst Bezug auf den spätmittelalterlichen Altaraufbau, bei dem das Retabulum – sei es ein Tafel-gemälde oder ein geschnitztes Bildwerk – durch die Predella mit dem Altartisch verbunden wird. Die Künstlerin verbindet aber die beiden Teile des Werkes nicht fest miteinander, sie bestehen neben- bzw. über-/ untereinander.

Mittelalterliche Predellen sind oft mit Szenen aus der Passion Christi gestaltet, häufig auch mit Darstellungen des Abendmahls oder der Grablegung. Das niedrige, lang gestreckte Bild-feld bietet sich seit jeher für das Aufreihen von Figuren an. Auch Bergmüller reiht im Balken Figuren neben- und übereinander, menschliche Figuren stehend, sitzend, liegend. In allen möglichen Körperhaltungen, Positionen und Größen werden Menschen dargestellt. Der Figurenfries weist darüber hinaus unterschiedliche Grade der Vollendung auf. So wird der Balken zu einem Predellenfries und auch zu einem Theatrum Mundi und zu einer Art Stände-bild, bei dem die Menschen jeden Alters, Geschlechts und jeglicher körperlicher Verfasstheit buntgewürfelt durcheinander sind. Es sind die Kreaturen eines Welttheaters, das der Erlösung Christi bedurfte und bedarf.

Junge Künstlerinnen und Künstler setzen sich – seien sie bildende Künstler oder Literaten – gerne und bevorzugt mit sich selbst auseinander. Dieser wichtige Akt der Selbstreflexion, diese Suche nach sich selbst und der Position in der Welt, findet sich auch im Werk von Mira Bergmüller. Sie ist die Maria unter den Kreuzen, und sie ist es auch, die sich in einer eindrucksvollen Bilderfolge „Auf der Suche“ folgerichtig benannt und Teil einer größeren Installation, portraitiert hat. Auf zahlreichen hölzernen Schindeln hat sie unterschiedliche schwarz-weiße, photographische Selbstportraits aufgebracht. Das sehr schmale, variierende Hochformat (von 16 x 8 bis 22 x 11 cm), die helle, naturbelassene Holzfarbe sowie die schwarz-grauen Farbwerte der Photos unterstreichen die strenge Feierlichkeit der meisten Portraits und wird in erster Line durch die überwiegend strenge Frontalität hervorgerufen. Format und Frontalität in der Darstellung erinnern stark an die spätantiken alexandrinischen Mumienportraits, wie sie in Ägypten in großer Zahl gefunden wurden. Sind Bergmüllers Portraits auch schwarz-weiß – und nicht wie die antiken Bildnisse in farbiger Enkaustik – geschaffen, so liegt in dieser geradezu asketischen Beschränkung der große Reiz und die Stärke der Bildnisse. Das ebenmäßige Gesicht der Künstlerin, mit den nach hinten gebundenen schweren schwarzen Haaren, tut sein übriges dazu.

Es ist ein starker, weiterführender Ansatz, die „christliche Kunst“ aus der aktuellen Sackgasse der Beliebigkeiten herauszuführen, den Mira Bergmüller entwickelt. Auch wenn sie im traditionellen Sinne sicher keine christliche Künstlerin ist und sein will, so ist doch zu wünschen, dass sie diesen Weg noch eine Weile konsequent fortsetzen möge.

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